Close

Wie ich plötzlich noch nie etwas von Mutismus wusste

… oder dem Zahnarztpraxispersonal ganz gehörig meine Meinung sagte.

Da ich, nach wie vor, Vollzeit arbeite und zusätzlich 1,5 Stunden im Auto sitze, um von A nach B zu juckeln, sind Arzttermine manchmal etwas schwierig. Und dann bin ich ja immer noch der Mensch mit Mutismushintergrund, der all das mal eben nicht so einfach kann. Deshalb braucht das manchmal etwas Planung. Zum Beispiel, wo stelle ich wann das Auto zum Parken ab. Das muss am besten schon wochenlang vor dem eigentlichen Termin klar sein. Mensch mit Mutismushintergund halt. Dachte ich. Bis eben.

Denn plötzlich schimpften die Lippen schneller als mein Gehirn funktionerte, sodass ich gar nicht rechtzeitig realisieren konnte, was ich da machte. Nämlich in aller Öffentlichkeit, also anderen Patienten im Warte- und Behandlungszimmer, meine Meinung mitzuteilen. Laut. Bissig. So bissig wortgewandt wie normalerweise nur die Finger können. Denn es war nun so, dass ich mir für den Arzttermin, der u n b e d i n g t in dieser Woche sein sollte, einen halben Tag Urlaub nehmen musste. Angeblich habe man mich angerufen, weil der Termin heute nicht geht. Ist noch nicht fertig. Coronavirus und so. Aha.

Meine Lippen waren dann urplötzlich der Meinung, fragen zu müssen, ob sie denn auch so nett sein können, mein Mobiltelefon über diesen Anruf zu informieren. Denn das wäre ja das ausschlaggebende Gerät hierfür. Ja, wir können gerne die Nummer prüfen, ob da was schief gelaufen ist. Sehr gerne. Die Erinnerung für diesen Termin habe ich gestern zumindest einwandfrei per SMS bekommen. Aber gut möglich, dass sich meine Nummer h e u t e geändert hat. Ja. Gut. Dann nicht. Hm.

Tja. Was jetzt? Es täte ihnen ja leid, aber dann müsse man einen neuen Termin ausmachen. Tja, ich höre. Nächste Woche gleiche Zeit? Ähm. Nein. Mit Sicherheit nehme ich nicht noch einmal Urlaub. Mein Urlaub ist heute. Nicht nächste Woche. Sie können sich jetzt gerne etwas einfallen lassen, wie Sie das hinbekommen, dass ich meinen Termin am Abend ab 18 Uhr bekomme. Hm. Da ist erst wieder etwas im März frei. Das ist viel zu spät. Ja, dann wäre es besser, wenn Sie berufstätige Menschen anrufen, die extra Urlaub nehmen, wie ich vor zwei Wochen beim Ausmachen des heutigen Termins ja bereits gesagt habe. Dann hätte ich den Urlaub verschieben können. Hm. Am neunzehnten um 17 Uhr? Nee. Da ist ein Termin auf Arbeit. Da kann ich nicht weg. Hm. Am vierundzwangisten? Weiß ich nicht. Können Sie nicht nachgucken? Ja, wie soll ich denn j e t z t in meinem Arbeitsterminkalender gucken, an welchen Tagen ich früher gehen kann? Ich habe U r l a u b und stehe hier. Können Sie nicht einen Kollegen anrufen? Achja. Anrufen. Guter Scherz. Ich denke nicht, dass ich jetzt noch witzig bin.

Dann hab ich angeboten, mich morgen telefonisch für einen neuen Termin zu melden, da mein Gehirn langsam wieder überhand nahm und vernünftig wurde. Bis wann sie denn da wären, wollte ich wissen. Ja. Moment. Da muss sie gucken. Na wunderbar. Sie wissen nicht im Kopf, wie Ihre Sprechzeiten sind? Nur Experten hier! Und am Ende hab ich noch gefragt, ob es eine gute Idee ist, so mit Vollzeitberufstätigen umzugehen. Denn irgendjemand muss die Scheiße, die höher ist als meine Miete, ja auch bezahlen. Aus. Schluss. Tschüss. Ein bisschen filmreif. Mit Cliffhanger. Denn die eigentliche Ärztin weiß ja noch gar nichts von ihrem Glück, dass ich als Mensch mit Mutismushintergrund plötzlich so schimpfen kann. Ich bis heute ja auch noch nicht.

Ja. Im Prinzip war meine Woche auch einfach nur sehr scheiße. Jetzt geht’s zumindest besser. Ein bisschen Dampf ist weg. Und ich habe endlich mal wieder einen Blogeintrag aus dem Alltag fabriziert. Das hat Spaß gemacht. Die Zeit ist also ein bisschen sinnvoll genutzt. Und eigentlich war die ganze Geschichte auch sinnvoll. Denn heute habe ich mir mal absolut gar nichts gefallen lassen. Auch wenn die Zahnarztpraxis nicht der hundert Prozent richtige Ort dafür ist.

Und ich sah, wie Herr V. zu grinsen begann. So breit und lang, dass überall die Grübchen und Falten deutlich wurden.

»Mara, Mara. Du machst ja Sachen.«

3 thoughts on “Wie ich plötzlich noch nie etwas von Mutismus wusste

  1. Wow…

    Entschuldige, das hat jetzt drei, vier Minuten wirken müssen, bis ich weiterschreiben kann. Ich habe seit Jahren nichts mehr von dir gelesen, sodass sich diese Geschichte wie ein voller ‚Karriereerfolg‘ liest. Einer mit Dampfhammer! Wunderbar! 😊

Leave a Reply to Andreas Pohl Cancel reply

Your email address will not be published.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.